Sind Roboter die besseren Psychotherapeuten?

Eine Studie sorgt im Moment für Furore im Blätterwald, bei Management, Trainern, Beratern: “Sind Roboter die besseren Chefs” wird da in Bezug auf MIT-Überlegungen gefragt. Kurz zusammengefasst sind “Roboter” weniger voreingenommen und mehr an der Sache an sich “interessiert”.  Klar, dass so eine Aussage nach der Literatur der letzten Jahrzehnte zu Management, Motivation und Leadership nachdenklich stimmt. Und ebenfalls klar, dass sie in Zeiten von Big Data und Social Business auch enorme Bedeutung haben kann für die Art wie Unternehmen strukturiert werden.

Mich hat die heftige Diskussion amüsiert, weil ich vor einigen Jahren schon einmal bei einer “intimeren” Rolle die These aufgestellt habe, dass sie vielleicht besser von Robotern (alias Künstliche Intelligenz) wahrgenommen werden sollte: die der Psychologen und inbesondere der Psychotherapeuten. Meine Argumentation ging in eine ähnliche Richtung wie die der MIT-Studie. Um das ganze auf die Spitze zu treiben rief ich ein (teilweise ernstgemeintes) Projekt ins Leben, einen solchen AI-Coach zu entwickeln.

Zur Ergänzung der Diskussion über die Roboterchefs hier noch einmal die Projektskizze des “Vimo”:

Project VIMO – Der ultimative Coach

Grundidee

Die Menschheit hat zwar technologisch ungeheure Fortschritte erzielt und ist auch auf einem expansiven Pfad, das weiterhin zu tun. Aber die Betreuung unseres Geistes, der „soft factors“, von Dingen wie Lebensgestaltung, Stressmanagement, Beziehungen usw. ist nach wie vor auf einem höchst rudimentären Level. Es gibt einige, zum großen Teil sehr ideologische Theorien über den Menschen, und Neurologie und Psychologie beginnen gerade, durch eine Annäherung erste neue Ideen zu entwickeln.
So sieht es dann eben auch mit Psychotherapie, Kommunikations-Tipps und Ähnlichem aus. Beratungen und Behandlungen sind ein Stochern im Nebel, Verfahren der Persönlichkeitsbeurteilung grobe Holzschnitte und die Ratschläge der Professionellen resultieren überwiegend aus ihrer jeweiligen Richtung.
Wer kennt nicht das klassisch verulkte Psychotherapeutengespräch, bei dem der Therapeut bei jeder Äußerung seines Klienten versucht, die typischen Bestandteile der Psychotherapiewelt wie Phallus und Ödipus zu entdecken? Der Berater, Coach und Therapeut hat nie einen unvoreingenommenen Blick auf den ganzen Menschen, er ist eingeschränkt dadurch, dass er selbst ein Mensch ist, mit Glaubens- und Wertesystemen, eingeübten Verhaltensweisen und Methoden.
Dabei wünscht man sich oft bei Lebensproblemen, im Ehestreit oder bei beruflichen Krisen einen Berater, der nur das Wesentliche sieht, genau auf die individuelle Person zugeschnitten und nur das vorschlägt, was wirklich funktionieren wird. Der einen auf kreative, neue Wege bringt und einen nicht auf seinen Ansatz, sein Verfahren zurechtstutzt.

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Daher jetzt die Idee, die Beratung des Menschen in psychischen, kommunikativen, geistigen Dingen den Menschen aus der Hand zu nehmen und es auf eine „neutrale“ Ebene zu heben. Denn: die rasante Entwicklung der Vernetzung und der digitalen Technologie der nächsten Jahre und Jahrzehnte wird uns ungeahnte Möglichkeiten geben, Beratung einmal ganz anders anzugehen.
In wenigen Jahren wird ein gewöhnlicher Laptop das menschliche Gehirn simulieren können. Tausende dieser Laptops vernetzt werden in rasender Geschwindigkeit die Fähigkeiten jedes menschlichen Beraters übersteigen. Selbst wenn es um menschliche Probleme geht. Außerdem ist dieses Netz nicht ideologisch vorbelastet . . .

Was würden Sie sagen, wenn Sie in nächster Zeit ein System zur Verfügung haben, dem Sie ihre Probleme eingeben und das antwortet: „Menschen, die genauso ticken wie Sie haben in dieser Situation die folgenden Dinge getan und es hat funktioniert!“?
Und sie würden wissen, dass diese Einschätzung nicht nur auf einigen wenigen, subjektiven Erfahrungen beruht, sondern auf den Erfahrung von Millionen von Menschen!
Und, was würden Sie sagen, wenn das in einigen Jahren ein virtueller Avatar wäre, mit dem Sie ganz normal reden können, hinter dessen Aussagen aber das komplette bisherige Erfahrungswissen der Menschheit zur Lösung persönlicher Schwierigkeiten liegt?

Science Fiction? Bisher schon.

Die Idee wäre also, einen bisher nie dagewesenen Berater für menschliche Fragen auf der Basis künstlicher Intelligenz zu erschaffen. Ein solches Unternehmen könnte lukrativ sein und viele Bereiche des menschlichen Lebens revolutionieren. Es müsste nicht direkt entwickelt werden, sondern es entsteht über die Jahre in mehreren Phasen, die jeweils die parallel entstehende technologische Entwicklung nutzen. Jede Phase nutzt die Ergebnisse der vorhergehenden und führt sie mit neuer Technologie auf eine neue Stufe.

Phase Eins

Das System wird langsam zum Wachsen gebracht, nicht in einem großen Wurf implementiert. Im Gegenteil: Gerade, dass der Vimo „natürlich“ und von selbst wächst ist ein Kernpunkt seiner zukünftigen Leistungsfähigkeit.
Phase Eins ist ein einfaches soziales Netzwerk. Die Nutzer tauschen sich darin aus, was sie angewendet haben und was in bestimmten Situationen geholfen hat. Dann bewerten sie zusätzlich – wie in Social Networks üblich – noch die Tipps, so dass jeder, der Hilfe zu einem bestimmten Thema sucht, sofort die besten Tipps präsentiert bekommt.
Solches Wissen und solche wechselseitige Beratung ist schon an vielen Stellen im Netz vorhanden. Nur eben nicht gebündelt, es wächst und integriert sich bisher nicht und ist nur mit einem gewissen Aufwand zu finden.

Phase Zwei

Der nächste Schritt implementiert die ersten Vorraussetzungen zu einer zunehmenden Automatisierung des Verfahrens. Hier geben die einzelnen User sehr klare Profile ein. Nicht nur die Grunddaten, die schon in Phase Eins erhoben werden, sondern so viele Details, wie für eine Person nur denkbar.
Also nicht nur Alter, Geschlecht, Beruf, sondern auch so etwas wie Essvorlieben. Zusätzlich wird eine Vielzahl von gängigen Persönlichkeitsanalyseverfahren zur Verfügung gestellt. Auch das mit dem Ziel, die Daten über das jeweilige Individuum immer umfassender, immer ganzheitlicher aufzubauen.
Schrittweise werden diese Angaben von Freitext-Eingaben in Pulldowns verwandelt, deren Angebot immer weiter wächst. Das ist kein technisches Detail, sondern die Basis dafür, die Daten vollautomatisch immer vergleichbarer zu machen. Dadurch kann dann ziemlich bald der Tipp mit einem Wahrscheinlichkeits-Ranking versehen werden, darauf basierend, wie ähnlich sich zwei Personen und ihre Situation sind.
Wieso werden dort so viele Sachen abgefragt, die eigentlich nichts mit dem jeweiligen gegebenen Problem zu tun haben? Ganz einfach: Weil wir das nicht wirklich wissen! Früher nahm man im medizinischen Bereich an, dass Körper und Geist nichts miteinander zu tun haben. Heute spricht man locker von Psychosomatik. Wir möchten die Beurteilung des Systems nicht durch unsere Vorurteile einschränken, daher wird die komplette Bandbreite an Daten eingegeben und welche Muster sich ergeben, wird einzig und alleine durch den Erfolg bestimmt.
Vielleicht stellt sich heraus, dass Menschen einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur bei einer typischen Art Eheprobleme mehr Curry essen müssen. Das würde zwar Mediziner wie Paartherapeuten vor ein Rätsel stellen, was die Betroffenen kaum kümmern dürfte, solange es funktioniert.
Wir glauben an nichtlineare, systemische, ganzheitliche Zusammenhänge, die nicht immer reduzierbar und verständlich sind. Also lassen wir die Erkenntnis darüber evolutionär wachsen.
Basisidee: Wir wissen nicht, welche Muster den Erfolg ausmachen, aber im Netz kann man das rausfinden, durch ein Empfehlungssystem vergleichbar Amazon, auf der Basis vielfältiger, umfassender, persönlicher Daten.

Phase Drei

Dies ist der Eintritt der künstlichen Intelligenz in das System. Und dies passiert auf zwei Ebenen:

  • Das Netz verwendet jetzt Techniken des semantischen Web, d.h. es ist bis zu einem gewissen Grade im Stande, zu verstehen, was dort diskutiert, angegeben und vorgeschlagen wird. Auf diese Art steigt auch die Fähigkeit des Systems, Fragen und Probleme zu analysieren und genauer zuzuordnen. Es versteht Fragen, zerlegt sie selbstständig in Kategorien, sucht nach Erfolgszusammenhängen.
  • Das System schafft nicht nur den blanken Abgleich zwischen Personen, sondern es beginnt Muster zu erkennen, also neue Zusammenhänge und Vermutungen aufzustellen. Im Abgleich mit dem Erfolg dieser Muster beginnt das System zu lernen. Ein angenehmer Nebeneffekt: das System liefert permanent neue Forschungsergebnisse zur Individual- und Sozialpsychologie.

Mit einer geschickten Rückkopplungsschleife versehen, kann ein solches KI-System in enormer Geschwindigkeit lernen: der Erkenntnisgewinn und die Treffsicherheit steigen exponentiell. Das System versteht konkrete Fragen, zerlegt die Fragen in Kategorien, sucht danach nach Erfolgen.

Phase Vier

Der technologische Stand bei Spracherkennung ist bis zu dieser Phase deutlich weiter entwickelt. D.h. unser System wechselt von einer formulargestützen Eingabe zu Sprache. Das System stellt direkt die Fragen und gibt Antworten, es kann automatisch aus der Sprache die Zusammenhänge und Kategorien ausfiltern und in das eigene Netzwerk einbinden und einsortieren. Es lernt beständig weiter, die Nutzer können es schon fast wie eine Art Telefoncoaching verwenden.

Phase Fünf

Das ganze System ist eine Person in einer VR-Welt, die sich mit dem Nutzer in einem normalen Gespräch bewegt. Aber hinter jeder dieser Avatare verbirgt sich die Intelligenz des gesamten Systems. D.h. der Nutzer weiß, dass jeder Satz, den dieser Avatar sagt, Tausenden oder Millionen Menschen in seiner Situation geholfen hat, wie banal er auch klingen mag.
Die Art des Avatar und das „Setting“, also die Umgebung in der das Beratungsgespräch stattfindet, ist frei wählbar. Es können also Millionen von Personen gleichzeitig mit dem System ein Beratungsgespräch führen, aber der beratende Avatar und die Umgebung sind individuell verschieden.
Und mit jedem Gespräch und Feedback lernt das System mehr. Und irgendwann beginnt es, uns ungewöhnliche Lösungsmethoden vorzuschlagen, die noch nie jemand verwendet hat, die aber funktionieren, weil sie ideal auf uns Menschen passen . . .

Gräbt Big Data historische Ökonomen aus?

Im 19. Jahrhundert versuchte sich die Historische Schule der Nationalökonomie an einem Sonderweg, an einer Alternative zur englisch geprägten “Klassik”. Und gingen damit sang- und klanglos unter. Wilhelm Roscher, Bruno Hildebrand und Karl Knies waren der Meinung, dass es in der Volkswirtschaft nicht einige schöne und klare Formeln gibt, die immer und überall funktionieren. Sondern dass es darauf ankommt, in welcher Kultur und in welcher Situation man das betrachtet. Was an einer Stelle stimmt, kann an anderer Stelle falsch sein. Also schauten sie sich das im Detail an, in einzelnen Kulturen, zu unterschiedlichen Epochen, und sammelten so eine Unmenge an Einzelerkenntnissen.

Nur: Die schicken, eindeutigen Formeln von David Ricardo bis Alfred Marshall waren viel leichter zu vermarkten. Schnörkellose Theorien, mit universellem Anspruch, die überall galten. Und so ist die Volkswirtschaftslehre heute die der angelsächsischem Klassik, zuzüglich einiger in neuerer Zeit hinzugefügter schicker Formeln. Kritiker wie der Wirtschaftshistoriker Henry Spiegel zerreißen die Historische Schule in der Luft und meinen, mit dieser ganzen Sammlung von Einzelfällen könne man überhaupt keine Maßnahmen planen und außerdem läge dieser Sonderweg nur daran, dass die Deutschen die Aufklärung nicht richtig mitgemacht hätten.

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Aber mit dem Einzug von Big Data Ansätzen könnten Ideen vergleichbar denen der historischen Ökonomen eine ungeahnte Renaissance erleben. Und wir könnten vergleichbare Wechsel in der Vorgehensweise auch in anderen Feldern erleben.

Doch wieso waren die historischen Ökonomen eigentlich eine Sackgasse? Der Kernvorwurf an Ansätze wie dem der Historischen Schule ist, dass ihre Erkenntnisse nur “anekdotischen Charakter” hätten, sie würden eben Stories und Daten zu Einzelfällen sammeln, aber das würde wissenschaftlich nichts aussagen. Eine wissenschaftliche Aussage muss überall zum selben Ergebnis kommen, sonst stimmt eben die Aussage nicht. Und so kommt man dann zu einer eindeutigen, schönen Formel, die überall gilt. Und das lässt sich leichter lehren, Politikern und anderen Entscheidern an die Hand geben. Und wenn irgendwas nicht funktioniert … nun, dann hat jemand eben die Formel noch nicht verstanden. Und was man nicht auf diese Weise verkaufen kann, ist eben eine Sackgasse.

Nur steckt dahinter auch ein Problem der Komplexitätsreduktion. Wenn die Erkenntnis auf Hunderttausenden von Einzelfällen beruht, die jedes Mal einzigartig sind, und ich als Entscheider will jetzt wissen, was ich in einer volkswirtschaftlichen Frage tun soll, wie soll ich mich in diesem ganzen Wust zurecht finden? Woher soll ich wissen was passt? Da habe ich doch lieber eine klare Ansage mit einer überall anerkannten Formel.

Und hier kommen jetzt die Big Data Ansätze und ihre Vettern aus dem Bereich „Social“ ins Spiel. Die brillieren nämlich gerade darin, Unmengen an Daten, Ereignissen, „Anekdoten“ etc. verarbeiten zu können und in Sekundenschnelle die Passung von Mustern zu überprüfen. Je ausgefeilter die Analysemethoden werden, je besser das mit Dingen wie Recommendation verknüpft wird, desto eher kann ich mit der Summe an Einzelfällen mehr anfangen als mit der zwangsgleichgeschalteten Einheitlichkeit einer Standarderkenntnis. Das heißt: würde man jahrzehntelange Sammlungen von Anekdoten einer Historischen Schule in ein passend aufgebautes Big Data System stecken, könnte das mir potentiell sagen, welche Muster mit denen ich gerade konfrontiert bin, an anderen Stellen dieser Welt schon einmal aufgetreten ist. Und welche Lösung funktioniert hat und welche eben nicht. Und dieser Lösungsansatz wäre dann sicherlich treffgenauer als das, was die Standardtheorie auswirft.

Wir sehen den selben Zusammenhang auch in anderen Feldern, wie z.B. der Medizin. Auch da wird manchen Heilungsmethoden immer wieder vorgeworfen, dass ihre Erfolge „anekdotischer“ Natur wären, sprich sie funktionieren manchmal erstaunlich gut und in anderen Fällen gar nicht. Im Schnitt dann gar nicht. Aber was interessiert mich der Schnitt, wenn ich derjenige bin, bei dem es funktioniert? Und so versucht man auch dort mit bewährten Standardverfahren orientiert an einem Durchschnittsmenschen zu arbeiten. Einfach weil der Grad an Verschiedenheit für das medizinische System bisher nicht zu verarbeiten war. Bisher. Denn der Weg zur individualisierten Medizin beginnt damit, den Einzelfall als wertvoll zu erkennen. Das eben die Summe der Erkenntnisse aller Einzelfälle einen Schatz birgt und nicht dasselbe ist wie der Schnitt aller Einzelfälle.